Das Land

Es ist nicht schön, aber unser Zuhause

Ulrich stand im Obergeschoß des Messturms in Bigot und schaute in die Ferne.
Gerade erst hatte er die einer magischen Messung nachfolgenden Rituale abgeschlossen, die es Magieanwendern oder finsteren Wesen unmöglich machen sollten, eine Messung für ihre Zwecke zu benutzen. Seine Hand ruhte auf den glatt polierten Steinen, die immer noch ein wenig Wärme abstrahlten, während er seinen Blick schweifen ließ. Bretonien, dieses seltsame Land. So reich und doch gleichzeitig so arm, denn obwohl der Boden fruchtbar war und unglaubliche Mengen Vieh auf fetten Wiesen grasten, war das Land irgendwie tot.

Ulrich wusste, dass “tot“ das falsche Wort war, aber ein besseres fiel ihm einfach nicht ein. Bretonien fehlte einfach etwas. Hier gab es keine Naturgeister, Nymphen oder Dryaden, bzw. gab es fast keine. Auf dem letzten Wollfest war eine Dryade erschienen und die Sorglosigkeit und Naivität der Anwesenden im Umgang mit dem Baumgeist hatte ihn regelrecht erschüttert.

Menschen, die jeden Ork, ohne zu fragen niederstreckten, hatten eine Dryade mit Nüssen und Trauben gefüttert. Was sollte man dazu noch sagen? Doch er wollte seinen Gastgebern auch keine Vorwürfe machen, denn derartige Wesen gab es in Bretonien kaum. Doch er hatte das Gefühl, dass sie langsam mehr wurden, so als ob das Land langsam wieder beginnen würde zu atmen. Es war die Herrin vom See, welche die Naturwesen wieder zurückbrachte, da wo sich der Glaube an sie wieder ausbreitete und erstarkte.

Das war ein gutes Zeichen für Ulrich, der vermutete, dass der davor herrschende Glaube an den Eynen Gott sich wie Mehltau über das Land gelegt und es erstickt hatte. Doch nun war der alte Glaube wieder da und man spürte wie das Land an neuer Kraft gewann. Die Herrin vom See gehörte nach Bretonien, denn dies war ihr Land und sie kümmerte sich gut darum. Ulrich mochte die Göttin und ihren Glauben. Waldgeister, Baumfrauen, Quellnymphen, Ulrich beschloss in diesem Moment, dass er ein Buch schreiben würde, um den Bretonen diese Wesen wieder nahe zu bringen und ihnen den Umgang mit ihnen zu erleichtern. Er musste lächeln, denn vermutlich würde es ohnehin niemand lesen.

Anders als in Tirda. Dort, im Reich Gorods, wusste jedes Kind was der Unterschied zwischen einer Nixe und einer Quellnymphe war, woran man erkannte, dass ein Nöck in einem See hauste oder wie man den Waldgeist besänftigen konnte. Tirda war voll dieser Wesen und die Menschen lebten mit ihnen Tag ein und Tag aus. Ja Tirda, ein bitteres Lächeln zeigte sich in Ulrichs Gesicht.

War es dort noch so wie er es noch in Erinnerung hatte? Und wie wäre es, wenn er eines Tages vielleicht doch zurückkehren durfte? Oder war aus dem “durfte“ längst ein “musste“ geworden? Er konnte es nicht sagen und seine Gedanken schweiften aus zur Sturmsee, über das Drachenmeer, an Yddland vorbei, hin zur Küste im Osten. Dort lag Tirda. Es schmiegte sich zwischen die Wellen des Meeres und die hohen Gipfel der Blacren Berge.


Bilder der Erinnerung kamen vor seinem geistigen Auge zum Vorschein. Das letzte was Ulrich von Tirda gesehen hatte war der Fluss Chisoth gewesen. Wie ein silbernes Band zog er sich durch die hügelige Landschaft im Norden. Am vollständig gerodeten südlichen Ufer standen die Wachtürme der Legion deren Besatzungen ihre Augen stets nach Norden gerichtet hatten hin zum Barbarenland. Am nördlichen Ufer des breiten, gewundenen Flusses ging der finstere Urwald bis ans Wasser.

Knorrige Bäume reckten ihre Äste wie Krallen nach Tirda aus, so wie die Bewohner dieses Wilden Waldes. Unzivilisierte Barbaren, die immer wieder über den Fluss kamen, um Vieh und Menschen zu rauben. In Gedanken zog er auf sorgfältig gepflasterten Straßen weiter nach Süden vorbei an Dörfern und Weilern. Er sah das freundliche Lächeln ihrer Bewohner, die jeden Reisenden, ohne zu zögern bei sich aufnehmen und bewirten würden. Ulrich schloss die Augen.

Beinahe konnte er den deftigen Eintopf und das dunkle Bier schmecken, das Feuer riechen und das Lachen an der großen Tafel im Gemeindehaus hören. Er spürte eine Träne und wischte sie fort noch bevor sie aus dem Auge herausgetreten war. Verdammter Wind, dachte er sich. Weiter, immer weiter nach Süden ging es nun. Dorthin wo Tirdas Wälder eine riesige grüne Kathedrale bilden. Selbst zur Mittagsstunde viel nur ein diffuser Lichtschein durch das Blätterdach der gewaltigen Stämme, die man teilweise mit zehn Männern nicht umfassen konnte. Hier schlug das wilde, grüne Herz Tirdas und hier hausten Waldgeister, Dryaden und Nymphen und die Tirdaner lebten mit ihnen und respektierten sie. Nur im Winter war es anders.

Wenn die Äste unter der Last des Schnees brachen und die Seen und Bäche gefroren waren, dann regierten Mangel und Hunger diese Welt. Wolfsrudel belagerten die Dörfer, Schneefrauen durchstreiften die Wälder und das markerschütternde Brüllen des Wendigo verbreitete Angst und Schrecken. Doch auch damit hatten die Tirdaner zu leben gelernt und ihre Sturheit den Widrigkeiten zu trotzen war ebenso stark wie ihr Zusammenhalt und irgendwann streckte der Frühling seine Finger auch nach Tirda aus.

Dann würden die Sümpfe von Askon in Farben regenrecht ertrinken. Ulrich hatte das Schauspiel schon mit eigenen Augen gesehen. Beinahe über Nacht verwandelte sich die trostlose, winterliche Sumpflandschaft mit ihren Wasserläufen und Inseln festen Grundes auf denen verkrüppelte Bäume wuchsen in eine überbordende Pracht aus Blumenduft und Blüten und dem Brummen von Insekten. Wandte man sich von hier nach Osten so konnte man am Horizont die hohen Berge der Goldspitzen sehen. Ihre immer mit Schnee bedeckten Gipfel werden von der untergehenden Sonne in goldenes Licht getaucht, woher sie ihren Namen bekommen haben. Würde Ulrich ihren Bergpfaden und Tälern wieder nach Norden folgen, so käme er zu den Blacrenbergen und zurück zum Chisoth.

Zumindest hatte er das gehört, denn selbst hatte ihn sein Dienst noch nie in diese selbst für tirdanische Verhältnisse gnadenlose Welt verschlagen. Lawinen, Steinschläge und Winde, die einem das Fleisch von den Knochen reißen, so erzählten es zumindest die Veteranen der Legion.

Eine Glocke riss Ulrich aus seinen Gedanken und er wandte sich von der Brüstung ab. Er hatte keine Zeit mehr für Träumereien.

Die Pflicht rief.

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